Die Erzählung „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka handelt von einem Mann vom Lande, der das Gesetz aufsucht, um dort eintreten zu können. Vor diesem steht jedoch ein furchterregender Türhüter, der ihm den Eintritt untersagt und zugleich auch vor den anderen, noch mächtigeren Türhütern warnt. Gleichzeitig verspricht er dem Mann vom Lande, dass er zwar eintreten könne, „jetzt aber nicht“. Daraufhin wartet der Mann sein ganzes Leben vor dem Gesetz und erfährt erst kurz vor seinem Tod, dass der Eingang nur für ihn bestimmt war und jetzt geschlossen wird.
Es stellt sich die Frage, ob der Mann nicht einfach hätte eintreten können und sich damit dem Verbot des Türhüters zu widersetzen. Aber vielleicht liegt ja gerade darin das persönliche Hindernis des Mannes.
Die Textart von „Vor dem Gesetz“ lässt sich als Parabel bestimmen, da sie eine Lehre vermitteln soll. Zudem schreibt Kafka die Geschichte in einer konstruierten Bildebene, da man ein „Gesetz“ ja nicht betreten kann. Da nur die Innensicht des Mannes und nicht die des Türhüters dargelegt wird, handelt es sich um eine personale Erzählperspektive. Ein auktorialer Erzähler hätte nicht nur die Gedanken des Türhüters kennen müssen, sondern auch noch Vorausdeutungen über das Ende machen müssen. Sprachliche Mittel findet man im Text nur vereinzelt. Aus den Wortwiederholungen „Türhüter“ und „Mann“ lässt sich allerdings keine große Bedeutung, eher die Rollen der Personen, die später erläutert werden. Bei der Zeitgestaltung stellt man eine Zeitraffung fest, da der Zeitraum eines ganzen Lebensabschnitts im Text erfasst ist. Das verleiht der Geschichte auch gleich eine größere Bedeutungsebene, denn ein solcher Zeitraum kann ja nur von entscheidender Wichtigkeit im Leben des Mannes sein. Die Raumgestaltung lässt sich hingegen nicht so leicht bestimmen, da der Text dazu fast keine Information liefert. Der Leser erfährt nur, dass sich die Szene vor dem Eingang des Gesetzes abspielt, was man nicht direkt auf die Wirklichkeit bzw. einen Ort übertragen kann. Nur die Tatsache, dass der Türhüter einen Pelzmantel trägt, lässt darauf schließen, dass es sich um einen kühleren Ort handeln muss. Für die Textaussage scheint das jedoch keine Rolle zu spielen.
Der Text wirft viele Fragen auf, insbesondere die Fragen nach den Bedeutungen einiger Begriffe, z. B. „Gesetz“, „Türhüter“ oder „Mann vom Lande“. Um diese beantworten zu können, muss deren Funktion im Text miteinbezogen werden. Ausgangspunkt ist der Mann vom Lande, der, da er ja vom Lande kommt, noch keine Welterfahrung hat und Eintritt in das Gesetz (sein Ziel) will. Dieses solle schließlich jedem offen stehen (Z. 8-9), umso größer ist sein Erstaunen über das Eintrittsverbot von Seiten des Türhüters. Dieser erweckt durch sein tartarisches Aussehen Ehrfurcht beim Mann vom Lande, er schüchtert ihn dermaßen ein, dass der sein Leben mit Warten auf Einlass in das Gesetz verbringt. Dass die Möglichkeit besteht einzutreten (Z. 3), lässt den Mann darauf hoffen, eines Tages doch noch sein Ziel zu erreichen.
Sein Warten ist ein Zeichen äußerster Passivität und Ratlosigkeit, Unwissenheit darüber, was passieren wird, wenn er doch eintritt. Das Verbot des mächtig erscheinenden Türhüters und die Warnung vor noch mächtigeren Hütern machen den Mann hilflos und hindern ihn daran, Mut zu zeigen und einzutreten. Er denkt, mit regelmäßigem Fragen nach Einlass, alles Machbare zu tun. Darüber hinaus versucht er sogar, den Türhüter zu bestechen – ein Widerspruch, wo er doch das Gesetz will. Er hat sich sogar darauf vorbereitet, die Bestechungsgeschenke eigens mitgebracht, was das Handeln des Mannes paradox erscheinen lässt. Warum führt er den Bestechungsversuch nicht weiter und missachtet das Verbot? Dann hätte er möglicherweise sein Ziel erreicht und das Gesetz erlangt. Aber mit Bestechungsgeschenken, die der Türhüter ohne Gegenleistung annimmt, geht er ja keine wirkliche Gefahr ein, er bleibt also weiterhin passiv.
Die letzte Erkenntnis, die er mit einer in seinen Gedanken eigentlich schon lange präsenten Frage erlangt (dass der Eingang nur für ihn bestimmt sei; Z. 31-32), lässt die jahrlange Hoffnung abrupt verschwinden.
Kafkas Intention ist, den Leser auf seine Ziele hinzuweisen, die er – ohne sich von irgendwem oder irgendetwas hindern zu lassen – konsequent durchsetzen soll. Zuviel Zeit darf man bei einer Entscheidung zu einem solchen Schritt nicht verlieren, denn sonst ergeht es einem – überspitzt gesagt – wie dem Mann vom Lande. Überspitzt deshalb, weil ja nicht jedes (Wunsch-) Ziel von solcher Bedeutung ist, wie in der Erzählung dargestellt. Häufig bleibt auch gar nicht die Zeit (eines ganzen Lebens) um eine Entscheidung zu treffen, deshalb rät Kafka zu raschen Handlungen.
Ich finde, dass man Kafkas Rat befolgen sollte, denn nur so kann man seine Ziele auch verwirklichen. Das heißt allerdings nicht, dass man sich jedem Verbot widersetzen sollte, denn manchmal bewahren Verbote ja auch vor Gefahren.
Die Frage, wer in „Vor dem Gesetz“ die Schuld am Verlauf der Geschehnisse hat, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Tatsache ist jedoch, dass der Türhüter den unerfahrenen Mann vom Lande hereingelegt und ausgenutzt hat. Der Mann allerdings hätte weiterführende Fragen stellen sollen, oder – wenn ihm die Entscheidung zu schwer gefallen wäre – den Ort verlassen sollen.
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