Interpretation: „Der alte Mörder“ (Paul Scheerbart)

Efeu rankte sich über das alte Gemäuer der stillen Ruinenwelt.
Und es war einmal ein Mörder. Der mordete ohn‘ Unterlaß.
So manchem Menschen-Dasein machte er ohn‘ Erbarmen ein
blutiges Ende. Der Mörder mordete stets mit seinem langen
kostbar ziselierten Patriarchendolch.

Dunkelgrüne Efeublätter fielen auf den Erdboden.

Als nun der Grausame nach harter Tagesarbeit wieder einmal
des Abends seine Stammkneipe betrat, brachte ihm der Wirt
Wasser zum Abwaschen des vielen Menschenbluts und Wein
zum Ausspülen des Magens. Und während der Wirt seinen Gast
eifrig bediente, fragte er so nebenbei:

„Sagen Sie mal, lieber Herr Mörder, warum morden Sie stets
am Tage? In der Nacht kann man doch viel gemütlicher morden.“

Frische hellgrüne Efeublätter schwebten durch die Stube
zum Fenster hinaus.

Und nach einer langen Weile sprach darauf der alte Gewohn-
heitsmörder folgendermaßen:

„In meinen Jugendjahren, als ich noch ein Mörderjüngling war,
pflegte ich nur des Nachts zu morden. Da traf es sich mal, daß
ich einem alten Wucherer im Wald auflauerte. Die Nacht war
dunkel, und ich bekam nachher den Jammerkerl zu packen. Ich
schlug ihm gleich mit der Faust so feste unter die Nase, daß ihm
alles Reden verging. Und dann mordete ich, so wie ich’s gewohnt
bin. Den Leichnam schmiß ich mitten auf die Straße, denn Toten-
gräber spiele ich nicht gern; die vielen Efeublätter wirken nicht
angenehm auf mein Gemüt. Was aber mußte ich zwei Tage nach
dem Morde hören? Ich mußte hören, daß ich aus Versehen den
ärmsten Mann der ganzen Gegend totgestochen hatte – und daß
der Wucherer entkommen war. Das ergriff mich furchtbar, und
ich habe geweint wie ein kleines Kind. Nein – einen armen Mann
töten, ist ein Verbrechen. Einen Wucherer töten ist eine gute,
brave Tat. Und so morde ich jetzt nur noch am hellen, lichten
Tage. Man sieht dabei sofort, ob es auch nötig ist, solchen Kerl
totzustechen. Mancher Lump verdient bloß eine tüchtige Tracht
Prügel. Ich renke manchmal den Schuften nur die Arme oder die
Beine aus und Iaß sie dann laufen; die also Bestraften vergessen
die Lektion nicht so leicht und bessern sich gemeinhin. „

Der Wirt nickte freundlich, und die Frau Wirtin brachte dem
Herrn Mörder Eisbein mit Sauerkohl und gutes Lagerbier dazu.

Dunkle Efeuranken schwankten vor den Fenstern der Schenke.

Der Mörder sah die Ranken nicht; er trank nach dem Abend-
brot noch eine kleine Weiße mit Kümmel und ging hinaus in den
Mondenschein, allwo viele schlechte Menschen spazierengingen
den Berg hinauf – bis zur stillen Ruinenwelt, wo der dunkle Efeu
mächtig wucherte.

Aber der Mörder beschmutzte seinen Dolch nicht; das nächt-
liche Morden hatte er sich ganz abgewöhnt.

Das war damals, als noch Richter, Staatsanwalt, Henker und
Rechtsanwalt dem Namen nach unbekannt waren auf Erden; die
Justizpflege war noch von patriarchalischer Einfachheit.

Heute gibt es solche Leute, die mit so viel edlem Anstande
wie unser alter Mörder morden, nicht mehr.

Grüne Efeublätter fallen auf den Erdboden.

Paul Scheerbart, 1902

Epochale Einordnung
Die historische Epoche ist als wilhelminisches Zeitalter zu kennzeichnen, wobei der Text durch seine bewusste Darstellung negativer Situationen (Mord) eine Vorstufe zum Expressionismus darstellt, welcher eigentlich erst 1905 begann. Dennoch ist eine Kritik an der Gesellschaft enthalten, was ebenfalls ein expressionistisches Merkmal ist. Die Bildhaftigkeit der Umgebung in dem Märchen – das Gegenüberstellen zweier sehr gegensätzlicher Dinge (Efeu=Naturelement <-> Mörder) – beides sind weitere Merkmale, die später im Expressionismus von Bedeutung waren.

Interpretation

Das im Jahre 1902 von Paul Scheerbart verfasste Märchen „Der alte Mörder“ befasst sich mit der Thematik, was den Mord an einem Menschen rechtfertigt. Ob dieser auch als (moralisch) legitim gesehen wird, soll im Rahmen der Interpretation herausgefunden werden. Deutlich ist aber in jedem Fall – ohne zu interpretieren -, dass die Frage nach dem „Richtigen“, (moralisch) Rechtmäßigen zur Sprache kommt beziehungsweise Meinungen hierzu formuliert werden.

Inhaltlich geht es in dem Märchen um einen alten Mörder, der zu einer Zeit lebt, in der die Durchsetzung des Rechts (noch) keiner staatlichen Gewalt unterliegt. Dementsprechend genießt der alte Mörder gewissermaßen ein gutes Ansehen in der Gesellschaft, weil er offenbar nur die tötet, die es seiner Meinung nach verdient haben, getötet zu werden. Seinen Grundsatz, nur am Tage zu töten, führt er darauf zurück, nicht versehentlich den Falschen umbringen zu wollen. Wie bereits gesagt weist der Erzähler zum Schluss darauf hin, dass der Mörder zu einer anderen Zeit lebte und die Umstände „heute“ (also zum Zeitpunkt, als das Märchen verfasst wurde – 1902) anders seien.

Der formale Aufbau des Märchens lässt sich folgendermaßen analysieren: Die Erzählperspektive scheint etwas entfernt von den Figuren zu sein, da fast durchgängig wörtliche Rede verwendet wird. Um einen neutralen Erzähler handelt es sich letztlich aber nicht, da besonders am Schluss deutlich wird, dass der Erzähler die Taten des Mörders gutheißt. Auch dass der Mörder die Ranken nicht sah (vgl. Z. 41) ist eher ein Hinweis auf einen personalen Erzähler, der vorrangig aus der Sichtweise des Mörders schreibt, zumindest aber dieselbe Meinung hat.

Neben für Märchen typischen Formulierungen wie „und es war einmal ein Mörder“ (Z. 2) oder „sagen Sie mal, lieber Herr Mörder“ (Z. 12) fallen auch einige sprachliche Besonderheiten auf, die weniger typisch für das klassische Märchen sind. So wird – um ein Beispiel zu nennen – sogar im zuletzt angeführten Zitat die semantische Gegensätzlichkeit deutlich („lieb“ <-> „Mörder“). Die Wortwahl stimmt auch im Folgenden häufig nicht mit dem Inhalt überein. Als Beispiel wären hier die Taten des Mörders zu nennen, denen meist positive, friedliche Umgebungen beigefügt werden („am hellen lichten Tage“, Z. 32 f.).

Die Symbolik des Märchens ist größtenteils durch die wiederholte Verwendung des stets aktiven Efeus bestimmt. Obwohl das Efeu durchweg aktiv ist, wird es nicht direkt personifiziert – „ranken“, „fallen“, „schweben“ und „schwanken“ sind durchaus gängige „Handlungen“ von Efeu. Trotzdem kommt dies einer Personifizierung nahe, zumindest die Wirkung ist gleich: das Efeu nimmt nicht nur eine zentrale Stellung in dem Märchen ein, sie beeinflusst auch den Mörder („Efeublätter wirken nicht angenehm auf mein Gemüt“, Z. 25 f.). Auf die Symbolhaftigkeit des Efeus wird jedoch noch später in der Deutung eingegangen.

Untersucht man die Figur des Mörders etwas genauer, so fällt wieder einmal die Gegensätzlichkeit auf, mit diese dargestellt wird. Sind es auf der einen Seite typische Bezeichnungen für einen Mörder („der Grausame“, Z. 7) oder für ihn typische Attribute („Patriarchendolch“, Z. 5; „Menschenblut“, Z. 9), so wird das Gefährliche beziehungsweise Negative des Mörders im Grunde schnell relativiert: Er hat – obwohl er rein objektiv betrachtet ein Serienmörder ist – sehr menschliche, auf Moralvorstellungen beruhende Gefühlsempfindungen und weint, wenn er den Falschen („einen armen Mann“, Z. 30) tötet. Durch den Vergleich mit einem „kleinen Kind“ (Z. 30) wird ebenfalls versucht, den Mörder als unschuldig beziehungsweise legitim handelnd darzustellen. Zudem formuliert der Mörder selbst sehr moralisch orientierte Grundsätze: „Mancher Lump verdient bloß eine tüchtige Tracht Prügel […] die also Bestraften […] bessern sich gemeinhin.“, Z. 34 ff.

Wie wird also der Mörder dargestellt? Seine Tat als solche scheint nach außen hin frei von Skrupeln zu sein. Doch immer dann, wenn von der Tat des Mordes die Rede ist, melden sich die Efeublätter „zu Wort“ – sie zeigen eine Reaktion und geben damit eine Wertung der Tat ab, indem sie eine Stimmung beschreiben.

Letztlich kann man die Efeublätter als ein Symbol für die Gedanken des Mörders (sein Gewissen?) deuten, was er in Z. 25 f. auch direkt anspricht. Der Erzähler sieht in den Morden offenbar auch eine moralisch gerechtfertigte Tat; „beschmutzen“ (Z. 46) würde er seinen Dolch nur, wenn er in der Nacht mordete, also nicht sähe, wen er tötet. Seine Opfer – im Beispiel wird ein Wucherer genannt – haben offenbar eine Bestrafung verdient.

Die gegensätzliche Bezeichnung Wucherer/armer Mann lässt als mögliche Deutung überdies auf eine Kritik am Kapitalismus zugunsten des Proletariats schließen.

Das gänzliche Fehlen der Präsenz staatlicher Gewalt und Justiz („Richter“, „Staatsanwalt“, „Henker“, Z. 48 f.) scheint für den Erzähler – möglicherweise auch für den Autor – ein Rechtfertigungsgrund für die Selbstjustiz des Mörders zu sein. Zumindest im Ansatz scheint der Autor ein gewisses Maß an Selbstjustiz zu billigen; da das Märchen mitunter Parabelcharakter aufweist – deutlichstes Kennzeichnen ist hierbei für mich der Schlussteil des Textes, in dem eine Übertragung der Geschichte auf die Zeit um 1902 vorgenommen wird („Das war damals…“, Z. 48 à „Heute gibt es…“, Z. 51) wird und daneben etwas Lehrhaftes vermittelt wird („mit so vielem Anstande“, Z. 51) -, kann die Verteidigung des Mordes jedoch auch auf weniger schlimme Straftaten übertragen werden. Im Hinblick auf die geschichtlichen Zusammenhänge könnte man hierin auch revolutionäre Ansätze erkennen.

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