Vergleich zweier Gedichte: „Mailied“ (Goethe) / „Er ist’s“ (Mörike)

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch.

Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd, o Sonne!
O Glück, o Lust!

O Lieb, o Liebe!
So golden schön!
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn!

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft.

Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud und Mut

Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!

Johann Wolfgang v. Goethe: „Mailied“ (1771)

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.-
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab‘ ich vernommen!

Eduard Mörike: „Er ist’s“ (1892)

Ich habe mich zu einem Vergleich der beiden Gedichte „Mailied“ (Johann Wolfgang v. Goethe; 1771) und „Er ist’s“ (Eduard Mörike; 1829) entschieden, da sie auf den ersten Blick hin eine ähnliche Einstellung zur Natur und insbesondere zum Frühling haben. Diese Gemeinsamkeiten gilt es nun -unter Berücksichtigung der wichtigsten Stilmittel und der Literaturepochen- miteinander zu vergleichen und zu analysieren.

Schon nach dem ersten Lesen von Goethes „Mailied“ lassen sich zweifelsfrei die Themen Liebe und Frühling feststellen (wobei die Liebe das Hauptthema darstellt), die das lyrische Ich nicht nur mit der Natur in Verbindung setzt, sondern auch Vergleiche mit ihr heranzieht. Dadurch entsteht eine durchweg harmonische Stimmung, in der sich vermutlich auch Goethe selbst befand, als er das Gedicht schrieb.

Er beginnt damit, der Natur harmonische Eigenschaften zuzusprechen, indem er sie zunächst mit persönlichen Empfindungen beschreibt. Dies führt er bis zur dritten Strophe (einschließlich) fort und fängt voller Begeisterung über die Natur in Z. 13 an, über die Liebe zu sprechen. Schnell kommt er in Z. 21 zur direkten Ansprache des Mädchens, das er zu lieben scheint. Abwechselnd wird nun von Strophe zu Strophe die Liebe oder die Natur hervorgehoben, er setzt trotzdem beides so eng miteinander in Beziehung, dass diese Wechselhaftigkeit abgerundet erscheint. Das Glücksgefühl bzw. Verliebtsein des lyrischen Ichs steigert sich zum Ende hin mehr und mehr und endet mit den Worten „Sei ewig glücklich, / Wie du mich liebst“ (Z. 35-36).

Um die Liebe zu beschreiben, bedient sich Goethe des Hauptmotivs Natur, welches man noch genauer unterteilen kann. Eine zentrale Rolle in der Natur spielen Wind, Himmel, Duft, Sonne und Blumen, von denen die wichtigsten später noch näher beschrieben werden.
Beim Untersuchen der strukturellen Merkmale des „Mailieds“ fällt zunächst der Jambus auf, der durchweg das Metrum des Gedichts darstellt. Da keine Abweichung zu erkennen ist, hat Goethe damit anscheinend keine Besonderheiten hervorheben wollen. Allerdings verwendet Goethe viele altbekannte Merkmale der Lyrik; so lässt sich z. B. der Zeilensprung in jeder Strophe feststellen (Bsp.: „Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!“, Z. 1-2). Die dahinter versteckte Absicht ist, den innerlichen Jubel und die Direktheit seiner Empfindungen und seiner Beschreibungen zum Ausdruck zu bringen.

Weiterhin ist hervorzuheben, dass das Gedicht sehr bilderreich geschrieben ist. So fallen zunächst die Wörter „wie“ und „lieben“ (auch als Substantiv vorkommend) auf, die sehr häufig wiederholt werden und einen starken Bezug zueinander haben. „wie“ wird in drei verschiedenen Varianten benutzt. Gleich in der ersten Zeile heißt es „Wie herrlich leuchtet“, wobei hier kein direkter Vergleich stattfindet, wohl aber ein Ausruf zumindest mit Vergleichscharakter vorhanden ist. Besonders stark tritt die Wiederholung in Z. 22-24 auf (Anapher); die dort dreimal hintereinander ähnliche Satzstruktur, immer beginnend mit dem „wie“, macht die Liebe zu dem Mädchen an dieser Stelle besonders deutlich. Weiterhin findet man diese Art der Wiederholung in den Zeilen 1, 3, 4, 22, 23 und 24. Die zweite Art der Verwendung von „wie“ stellt einen direkten Vergleich dar: „So golden schön, / Wie Morgenwolken“ (Z. 14-15). Gemeint ist die Liebe, die durch die ab Z. 11 immer wieder verwendete Anapher „O“ angesprochen wird. Auch das Wort „O“ hat eine ähnlich Wirkung wie das erste „wie“ – es stützt die Deutlichkeit des Ausrufs, jedoch kommt zusätzlich hinzu, dass es eine direkte Ansprache der Liebe zur Folge hat, wodurch diese auch personifiziert wird. Diese Personifikation setzt sich in Z. 17 mit „Du segnest herrlich“ fort und ab Z. 21 spricht Goethe plötzlich von dem Mädchen selbst, nachdem er innerlich auf diesen Höhepunkt zugesteuert hat. Die dritte Form der Verwendung von „wie“ tritt nur einmal auf, allerdings lässt sie sich nicht genau bestimmen. Formal hat sie eine ähnliche Bedeutung wie das erste „wie“: „Sei ewig glücklich, / Wie du mich liebst“. Es handelt sich um eine Zwischenform zwischen Vergleich und Ausruf, es klingt beinahe selbstverständlich, womit auch die Bedeutung erklärt wäre.

Um auf die Personifikationen im Gedicht zurückzukommen: Hauptsächlich personifiziert Goethe hier die Liebe als Thema und die Natur in verschiedener Form als Hauptmotiv. So „lacht die Flur!“ (Z. 4) z. B. und Goethe bringt damit zunächst einen globalen Eindruck vom herannahenden Frühling zum Ausdruck; in der zweiten Strophe wird er genauer und schreibt -wieder personifizierend- von „tausend Stimmen“, die „aus dem Gesträuch“ dringen (Z. 7-8). Goethes „Mailied“ enthält sicherlich noch viele weitere stilistische Merkmale, deren Bedeutungen für einen Vergleich mit „Er ist’s“ jedoch eher unwichtig sind.

In diesem Gedicht kann man -wie bei Goethes „Mailied“- den Frühling als Thema bestimmen. Bei Mörike ist er sogar das Hauptthema, weil es bei ihm nicht noch zusätzlich um die Liebe geht. Den Frühling beschreibt er jedoch mit mehr Motiven als Goethe es tut. Zwar werden die das „blaue Band“ (Z. 1), die „Düfte“ (Z. 3), die Blumen („Veilchen“, Z. 5) und der „Harfenton“ (Z. 7) nicht detailliert beschrieben, nehmen in dem kurzen Gedicht aber eine zentrale und bedeutende Stellung ein, weil sie den Frühling aus Mörikes Sicht beschreiben. Hier möchte ich auch schon eine erste Vermutung über die Bedeutung des Gedichts äußern, nämlich dass der Autor voller (Vor-) Freude und Begeisterung dem herannahenden Frühling, fast schon erleichtert entgegen blickt.

Vergleicht man einzelne stilistische Merkmale der beiden Gedichte miteinander, so werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede deutlich, deren Bedeutung es bei einem Vergleich zu beachten gilt. Bei Mörike flattert das „blaue Band“ des Frühlings „durch die Lüfte“ (Z. 1-2), wobei man die Bedeutung dieser Metapher nicht eindeutig festlegen kann. Allerdings ist anzunehmen, dass damit der eigentlich unsichtbare Wind gemeint ist, Mörike aber durch den strahlend blauen Himmel (für ihn offenbar ein Indikator für den Frühling) zumindest vor dem geistigen Auge sichtbar wird. Auch Goethe äußert sich über den Frühlingswind nur indirekt (Z. 15: „Morgenwolken“, Z. 26: „Gesang und Luft“). Bei beiden Dichtern ist das Windmotiv zwar nicht tragend, bei Mörike nimmt es aber schon eine gewisse bedeutsame Stellung ein, da der Wind ein erstes Zeichen für den wiederkehrenden Frühling ist und ihm als der erste Eindruck zum Thema in den Sinn gekommen ist. Goethe hingegen verwendet es gleich zweimal für einen Vergleich Liebe/Frühling, wobei auch ihm der Wind (bzw. die Morgenwolken) sehr charakteristisch für den Frühling erscheint. Doch nicht alle Motive haben in beiden Gedichten die gleiche Funktion; das Duftmotiv z. B. ist bei Mörike eine Art Hoffnungsträger, der gleich mit zwei Wörtern (Adjektiv, Adverb: „wohlbekannte“, „ahnungsvoll“; Z. 3+4) besonders hervorgehoben wird. Auch hier ist Mörikes Vorfreude auf den Frühling erkennbar. Bei Goethe hingegen bewirkt das Duftmotiv („Blütendampfe“, Z. 19; „Himmelsduft“, Z. 28) keine Vorfreude, sondern dient wieder zum Vergleich Liebe/Frühling und hat die gleiche Funktion wie das Windmotiv (es steht sogar im gleichen Vers).
Formal fällt zunächst die unterschiedliche Textlänge und die Anzahl der Strophen auf. Mörike hat nur eine Strophe, Goethe hingegen neun. Es werden verschiedene Wirkungen dadurch und durch andere Strukturmerkmale deutlich. Der mit einer betonten Silbe beginnende Trochäus bei Mörike und der häufig verwendete Zeilensprung (Z. 1-2, 3-4, 5-6) verleihen dem Gedicht Bewegung. Die neun Strophen Goethes, durchgehend in Jamben verfasst, verdeutlichen sehr gut, dass Goethe seinen Jubel über seine Liebe in Verbindung mit dem Frühling sehr ausgelassen zeigt. Dies wird durch den an einigen Stellen („Und Freud und Wonne / Aus jeder Brust.“, Z. 9-10) angewandten Zeilensprung nochmals deutlich. Neben diesem Unterschied ist noch das Kompositionsprinzip zu erwähnen, das in beiden Gedichten in der Form der Addition, Variation und Summation vorkommt. Im Gegensatz zu Mörike lässt sich Goethe viel Zeit mit der Addition von Eindrücken und der Variation (in Form von Vergleichen mit der Liebe), bis er schließlich ab Zeile 29 zusammenfassend seine Gefühle zum Ausdruck bringt. Mörike zählt seine Eindrücke nämlich nur kurz und stark komprimiert auf, und auch die Summation wird mit den letzten beiden Versen schnell abgehandelt. Dies ist ein weiterer Hinweis auf die Bewegung in Mörikes „Er ist’s“.

Wie schon mehrfach erwähnt wurde, fixiert sich das lyrische Ich in „Er ist’s“ auf den herannahenden Frühling und assoziiert verschiedene Vorboten des Frühlings (Wind, Duft, Veilchen) mit dem Frühling aus seiner Erinnerung. Bei Goethe hingegen ist der Frühling schon weiter fortgeschritten („Im Blütendampfe / Die volle Welt“, Z. 19-20) und dient eigentlich nur dazu, das Glücksgefühl des lyrischen Ichs über seine Liebe zu dem Mädchen anhand von eindrucksvollen Vergleichen („So liebt die Lerche / Gesang und Luft“, Z. 25-26) zu verdeutlichen. Das lyrische Ich ist bei beiden Gedichten insofern charakteristisch, dass es sich erst zum Ende des jeweiligen Gedichtes hin (bei Goethe ab der zweiten Hälfte, also fünften Strophe; bei Mörike in den letzen beiden Versen) zu erkennen gibt, indem es den Frühling direkt anspricht. Dadurch wird seine Naturverbundenheit deutlich, die auch bei der Intention des Autors eine wichtige Rolle spielt. Allerdings gilt es auch die Epoche und die Biografie des Dichters in seine Aussageabsicht miteinzubeziehen. So stand Goethe zwar, wie man an der originellen Reimform abcb… erkennen kann, unter dem Einfluss des Sturm und Drang, für den Originalität des Gedichtes mit im Vordergrund stand. Hinzu kommt jedoch, dass das Gedicht 1771 entstand, also zu der Zeit, als er in die 18-jährige Pfarrerstocher Friederike Brion aus Sesenheim verliebt war. Dadurch wird schnell deutlich, was Goethe zu diesem Gedicht bewogen hat: seine Liebe zu ihr, inspiriert und beeindruckt vom Frühling. Ein weiteres Merkmal des Sturm und Drang ist nämlich der stark gefühlsbetonte Charakter und die Naturverbundenheit, die auch in der mehr als fünfzig Jahre späteren Romantik Anklang fanden. Unter dessen Einfluss schrieb nämlich Mörike „Er ist’s“, genauer gesagt unter dem Einfluss der Spätromantik. Die Spätromantik geht jedoch noch weiter als der Sturm und Drang. So will der Autor nämlich nicht nur naturverbunden sein, sondern sucht eine Vereinigung von Natur und Geist. Dies wird bei Mörike auch ansatzweise deutlich, denn die Personifikation der Veilchen (Z. 5-6) und die direkte Ansprache des Frühlings untermalen dies recht klar.

Beide Dichter schrieben also sehr naturverbunden, obwohl sie unter dem Einfluss verschiedener Epochen standen. Goethe war von seiner Geliebten und dem Frühling so fasziniert, dass er diese Gefühle in einem Gedicht zum Ausdruck bringen musste. Mörike, auch von seinen Gefühlen bzw. Eindrücken seiner Erinnerungen an den Frühling geleitet, wollte dies ebenfalls lyrisch beschreiben. Insofern kann man sagen, dass beide Gedichte aus persönlichen, subjektiven Eindrücken und Stimmungen heraus schrieben und die beiden Gedichte in einigen Punkten durchaus strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen, obwohl der Anlass für Ihre Empfindungen jeweils verschieden ist.

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