Interpretation: „Lotusblume“ (Heinrich Heine)

Wahrhaftig, wie beide bilden
Ein kurioses Paar,
Die Liebste ist schwach auf den Beinen,
Der Liebhaber lahm sogar.

Sie ist ein leidendes Kätzchen
Und er ist krank wie ein Hund,
Ich glaube, im Kopfe sind beide
nicht sonderlich gesund.

Sie sei eine Lotusblume
Bildet die Liebste sich ein;
Doch er, der blasse Geselle,
vermeint der Mond zu sein.

Die Lotusblume erschließet
Ihr Kelchlein dem Mondenlicht.
Doch statt des befruchtenden Lebens
Empfängt sie nur ein Gedicht.

Heinrich Heine: „Lotusblume“ (1856)

Das Gedicht „Lotusblume„, welches sich im Zyklus „Nachlese“ befindet, verfasste Heinrich Heine im Jahre 1856, während er unter einer schweren Krankheit litt. Er beschreibt darin ein Liebespaar und macht sich über die kranke und kalte Beziehung der beiden lustig. Deshalb lässt sich als Thema die Liebe bestimmen, allerdings wird sie nicht sehr positiv von Heine beschrieben, was durch die nun folgende Analyse und Interpretation deutlich wird.

Bei der Wahl der Motive greift Heine auf Altbekanntes aus seinen früheren Gedichten zurück: die Lotusblume stellt die Geliebte dar und der Mond verkörpert den Liebhaber. Motive, die -wie später noch deutlich wird- eine ganz bestimmte Wirkung und Aussage haben, die einerseits die Beziehung des Liebespaars beschreibt und andererseits Heines Intention deutlich macht.

Doch vorab sollten der Aufbau des Gedichts und seine strukturellen Merkmale näher untersucht werden. Die Gliederung von „Lotusblume“ in vier Strophen mit jeweils vier Versen macht eine Einteilung des Gedichts in zwei Sinnabschnitte einfach. In der ersten und zweiten Strophe beginnt Heine damit, die Verfassung der beiden Personen (Geliebte und Liebhaber) zu beschreiben, indem er ihnen sowohl eine körperliche als auch eine geistige Krankheit auferlegt. Im zweiten Abschnitt (dritte und vierte Strophe) geht er von der Fiktion aus, dass die Geliebte eine Lotusblume und der Liebhaber der Mond sei. Doch diese ruhige Atmosphäre zerstört Heine abrupt und macht klar deutlich, dass die Liebe zwischen den beiden nicht zustande kommt. Einem Kompositionsprinzip ist dieses Gedicht nur schwer zuzuordnen, allerdings ist die dialektische Struktur wohl am besten geeignet. Durch die während des gesamten Gedichtes vorkommenden disharmonischen Gegensätze zwischen den beiden Figuren und der zum Schluss getroffenen Feststellung „Doch statt des befruchtenden Lebens / Empfängt sie nur ein Gedicht.“ lässt sich die dialektische Struktur bestimmen. Das Metrum des Gedichts lässt sich leider nicht allgemein festlegen, da es während des Gedichts mehrmals wechselt. In Strophe 3 treten beispielsweise drei verschiedene Metren auf: Trochäus (Z. 9), Daktylus (Z. 10-11) und Jambus (Z. 12). Dieser Wechsels des Metrums bewirkt, dass das Gedicht nicht in einem Atemzug gelesen wird, sondern dass der Leser bei jedem Wechsel stoppen muss und ihm auffällt, wie Heine der Szene seine Romantik nimmt (Z. 9 und 10: „Sie sei eine Lotusblume / Bildet die Liebste sich ein;“). Dass die Verse trotzdem auf eine gewisse Art miteinander verknüpft sind und der Bruch nicht zu stark hervortritt, liegt an den teilweise auftretenden Enjambements (Z. 1: „Wahrhaftig wie beide bilden / Ein kurioses Paar.“). Ein weiterer struktureller Faktor (also abgesehen vom Inhalt) für die disharmonische Atmosphäre im Gedicht ist die Klangform. Zwar werden die Endreimschemata relativ geordnet angewandt (Strophe 1+3: Kreuzreim abab; Strophe 2+4: Sonderart des Kreuzreims abcb), allerdings handelt es sich nicht immer um reine Reime (unrein: Z. 1+3: „bilden / Beinen“; Z. 9+11: „~blume / Geselle“).

Das lyrische Bild hat in diesem Gedicht eigentlich nur zwei Vertreter: den Vergleich und die Metapher. Vergleiche sind auf den ersten Blick nicht eindeutig auszumachen, weil die charakteristischen Vergleichswörter „wie“ oder „als ob“ fehlen. In Zeile 5 kann man das Wort „wie“ allerdings einfügen, ohne dass sich der Sinn grundlegend verändert („Sie ist {wie} ein leidendes Kätzchen“). Weitere Vergleiche sind Lotusblume (Z. 9, 13), Mond (Z. 12) und schließlich der absolute Vergleich mit dem Vergleichswort „wie“ in Zeile 6: „Und er ist krank wie ein Hund“. Als Metapher ist die gesamte vierte Strophe zu sehen. „Die Lotusblume erschließet / Ihr Kelchlein dem Mondenlicht“ soll bedeuten, dass sie, also die Geliebte, offen für die Liebe ist. Statt des „befruchtenden Lebens“, also in diesem Falle die Liebe, „empfängt sie nur ein Gedicht“. Um den letzen Teil der Metapher zu deuten, muss man beachten, dass hier das lyrische Ich zum ersten Mal hervortritt. Zusätzlich ist einiges an Hintergrundwissen erforderlich, um dies in einem größeren Zusammenhang verstehen zu können.

Das lyrische Ich kann man hier wirklich nur dann feststellen, wenn man weiß, dass Heine zu der Zeit, als er das Gedicht schrieb, erkrankt im Bett lag und häufig von der 27-Jährigen Elise Krinitz besucht wurde (Heine war damals, also 1855, 56 Jahre alt). Erst durch diese Information wird deutlich, dass sich Heine selbst als Mond und seine Besucherin (offenbar war er in sie verliebt) als Lotusblume sah. Aufgrund seiner Krankheit war er an sein Bett gebunden, was für ihn eine Barriere für eine Liebesbeziehung darstellte. Alles, was er ihr bieten konnte, war ein Gedicht – das Gedicht „Lotusblume“. Betrachtet man nun einige Figuren im Gedicht genauer, so passt die Beschreibung gut zu dem erkrankten Heine (Bsp.: Z. 4: „Der Liebhaber lahm sogar“; Z. 6: „Und er ist krank wie ein Hund“; Z. 11: „Doch er, der blasse Geselle“).

Heine beschreibt also in dem Gedicht seine Erlebnisse, jedoch kann man hier nicht von Erlebnislyrik sprechen. Im Gegenteil: Heine beschreibt ja nicht sich und Elise, sondern spricht als subjektiver Erzähler von einem „kuriosen Paar“, welches er mit Kätzchen, Hund, Lotusblume und Hund vergleicht. Fern von jeder Romantik macht er sich über dieses Paar eher lustig als dass er es bemitleidet. Dies wird durch Formulierungen wie „Wahrhaftig, wie beide bilden ein kurioses Paar“ oder subjektive Einschätzungen wie „Ich glaube, im Kopfe sind beide / nicht sonderlich gesund.“ deutlich. Verniedlichungen wie „Kätzchen“ oder „Kelchlein“ unterstreichen dies ebenfalls. Heine nimmt diesem Gedicht, das von der Liebe handelt, dadurch jede Harmonie und wenn man bedenkt, dass er über sich selbst schreibt, geht er extrem selbstkritisch mit sich um. Seine Absicht steckt also nicht nur darin, auf seine missliche und hilflose Lage aufmerksam zu machen, sondern auch darin, den Liebesszenen jede Romantik zu nehmen – eine Absicht, die Heine in vielen seiner Gedichte verfolgte.

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