Interpretation: „San Salvador“ (Peter Bichsel)

In der Kurzgeschichte „San Salvador“ von Peter Bichsel geht es um einen Mann namens Paul, der unbedingt nach Südamerika auswandern will. Seiner Frau Hildegard, die gerade beim Kirchenchor ist, will er einen Abschiedsbrief schreiben. Mit seinem neu gekauften Füllerfederhalter versucht er mehrmals einen passenden Brief zu verfassen. Allerdings hört er nach jedem fertigen Exemplar auf, zerreißt dieses und beginnt von neuem. Nebenbei lenkt er durch Umschauen, Lesen der Gebrauchsanweisung und Nachfüllen der Feder von seinem Vorhaben ab. Als seine Frau nach Hause kommt, fragt diese nur ob die Kinder schon schlafen würden. Wenn man den Text genauer betrachtet und analysiert, kann man feststellen, warum Paul auswandern will.

Der Text beginnt nicht ganz unvermittelt, sondern mit einer kurzen Information (Z. 1 „Er hatte sich eine Füllfeder gekauft.“) und die Vorgeschichte wird erst im weiteren Verlauf des Textes klar. Da aber das Ende offen ist, und der Leser nicht genau weiß, ob Paul den Brief schreibt und nach Südamerika geht, handelt es sich eindeutig um eine Kurzgeschichte. Außerdem verläuft die Handlung linear, d. h. es tauchen keine Neben- oder Zwischenhandlungen auf. Paul wird sowohl durch äußere als auch durch innere Handlung beschrieben, seine tatsächlichen Gefühle werden jedoch nicht direkt offen gelegt, sondern können nur durch die Deutung seiner Handlungen erschlossen werden. Da Hildegard und die Kinder nur durch äußere Handlung dargestellt werden, wird in dieser Kurzgeschichte der personale Erzähler aus der Sicht Pauls verwendet. Der Text ist gut verständlich und beinhaltet nur wenige sprachliche Besonderheiten, z. B. die Parataxe von Z. 2-9, in der häufig das Wort „dann“ zur Verknüpfung der Hauptsätze verwendet wird. Dadurch entsteht der Eindruck eines langwierigen und stereotypen Vorganges. Im weiteren Textverlauf werden kurze, aneinander gereihte Hauptsätze gebraucht, wodurch plötzliche Gedankengänge geschaffen werden.

Die Füllfeder wird oft im Text erwähnt, insgesamt fünfmal (vgl. Z. 1, 6, 8, 13 u. 32). Für Paul scheint sie das einzige Mittel zu sein, seiner Frau etwas mitzuteilen. Doch wenn man beachtet, dass er sich beim Verfassen des Briefes viel Zeit lässt und -bevor er damit anfängt- noch ausführlich übt (vgl. Z. 2-4), fragt man sich, ob er wirklich nach Südamerika auswandern will. Seine Unsicherheit, erkennt man daran, dass er die Gebrauchsanweisung des Füllers liest (vgl. Z. 31 f.). Das ist so zu verstehen, dass Paul nach Ratschlägen sucht, wie er sich entscheiden soll (auswandern oder nicht?). Die Gründe für den Wunsch, sein derzeitiges Leben abzuschließen und in San Salvador ein neues zu beginnen, lassen sich anhand einiger Textstellen gut belegen. Die Textstelle „Mir ist es hier zu kalt.“ (vgl. Z. 5 u. 20) wird wiederholt, um damit Pauls Träume von einer wärmeren Umgebung auszudrücken. Eine weitere Wiederholung ist die Textstelle „sein[en] Name[n] Paul“ (vgl. Z. 9 u. 19), die wie die erste ein Teil von Pauls Brief ist. Mit der wiederholten Nennung seines Namens wird zum Ausdruck gebracht, dass er selbst diesen Brief aus eigener Überzeugung heraus schreibt und Hildegard die darin verfasste Nachricht mitteilen will.

Die Beziehung zwischen Paul und Hildegard ist, so lässt es sich aus dem Textzusammenhang heraus schließen in keinem guten Zustand. Zwar kennen sich die beiden sehr gut und wohnen anscheinend schon länger zusammen (erkennbar an Z. 15 f.; 21-30, wo die Gewohnheiten Hildegards aus der Sicht Pauls im Konjunktiv wiedergegeben werden).

Mit der Überschrift „San Salvador“ assoziiert der Leser Südamerika mit seinem warmen Klima, seinen offenen und temperamentvollen Bewohnern und vor allem einen stressfreien und harmonischen Alltag. Ganz anders scheint es jedoch in der Ehe von Paul und Hildegard zuzugehen, wie oben schon geschildert. Paul ist mit der derzeitigen Situation überhaupt nicht zufrieden und will dem Problem, der gestörten Kommunikation zwischen den beiden, aus dem Weg gehen, indem er nach Südamerika auswandert. Dieser Schritt scheint auf den ersten Blick leicht durchführbar. Allerdings merkt Paul, dass es für ihn doch nicht so leicht ist eine endgültige Entscheidung zu treffen und zögert. Er wird immer unsicherer und weiß schließlich nicht einmal mehr, ob er nach Südamerika oder in ein anderes Land gehen will. Das Vergleichen der verschiedenen Sprachen in der Gebrauchsanweisung (vgl. Z. 33 f.) lässt eine solche Deutung zu. Die bereits erwähnte Textstelle „Mir ist es hier zu kalt.“ (vgl. Z. 5 u. 20) kann man nicht nur als Unbehagen in klimatischer Hinsicht deuten, sondern auch auf die „erkaltete“ Ehe zwischen Paul und Hildegard. Die erst zum Schluss der Kurzgeschichte erwähnten Kinder sind hingegen kein Problem für die Beziehung oder gar die Ursache dafür. Im Gegenteil: Sie sind offenbar eines der wenigen Gesprächsthemen, das die beiden vor einer absoluten Kommunikationsstörung bewahrt. Wahrscheinlich sind sie auch der Anlass dafür, dass Paul den Brief letztendlich doch nicht zu Ende schreibt und nach San Salvador geht, weil er mit der Frage „Schlafen die Kinder?“ plötzlich wieder seine Pflichten als Vater und Ehemann sieht und diese, so vermute ich, nicht vernachlässigen bzw. aufgeben will. Meiner Meinung nach ist dem Problem nur durch offene Gespräche beizukommen. Paul sollte sich die Bewohner Südamerikas als Vorbild nehmen, die allgemein für einen offeneren Charakter bekannt sind.


Ich habe diese Interpretation zu einer Zeit geschrieben, als ich noch relativ „unerfahren“ auf dem Gebiet des „Interpretierens“ war (10. Klasse). Das bisherige Feedback sowohl von Lehrern als auch von Schülern war aber recht positiv. Trotzdem kamen noch einige Verbesserungsvorschläge und Anmerkungen, die ich Ihnen nicht vorenthalten will:

Kommentare zu meiner Interpretation von anderen Besuchern meiner Seite:

Der Schreiber hat sich wirklich viel Mühe gegeben, dennoch sind einige Dinge zu berichtigen. Man muss in dieser Kurzgeschichte ganz stark zwischen den Gedanken Pauls und dem Erzählerkommentar unterscheiden. Denn von Erzählerkommentaren gibt es in dieser Geschichte mehr als genug! Alle im Konjunktiv geschriebenen Sätze in Bezug auf Hildegard sind nicht etwa Pauls Gedanken-nein-das sind reine Erzählerkommentare! Daher ist es auch ein ALLWISSENDER (auktorialer) Erzähler.Der Schlüssel der Interpretation liegt in der Erzählperspektive! Der Leser wird dadurch aufs Glatteis geführt. Desweiteren ist zu berichtigen: Die Frage: „Schlafen die Kinder?“ stellt nicht Paul sondern Hildegard!

 

San Salvador heißt übersetzt „Insel der Hoffnung“

Weiterhin habe ich erst vor kurzem einen interessanten Link zu dieser Kurzgeschichte gefunden, zu dem man nicht auf Anhieb über die einschlägigen Suchmaschinen gelangt. Ist auch sehr empfehlenswert:
http://home.arcor.de/richardt/3-6.htm


Anmerkung (habe ich von einem Besucher meiner Homepage per E-Mail bekommen):

Guten Tag Herr Kuna. Ich finde ihre Interpretation ziemlich ausführlich und deutlich veranschaulicht. Tipp: San Salvador heißt übersetzt „Insel der Erlösung“ und ist in diesem Fall eine Metapher.

Kommentar hinterlassen

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert